Aus der Rede von Dr. Thomas Zwiefelhofer
«Die Zukunft Europas aus der Perspektive eines Kleinstaates»
Dr. Zwiefelhofer, dem in diesem Jahr die FEK-Europmedaille Kaiser Karl IV. verliehen wurde, ist 1969 geboren, studierter Architekt und Jurist und gehörte von 2013 bis 2017 als Regierungschef-Stellvertreter mit Zuständigkeit für das Ministerium für Inneres, Justiz und Wirtschaft der Regierung des Fürstentums Liechtenstein an. Nach seinem Ausscheiden aus der Politik arbeitet Dr. Zwiefelhofer, der 2018 zum Honorarkonsul der Tschechischen Republik ernannt wurde, heute als Member of the Group Board bei der First Advisory Group in Vaduz, wo er auch mit seiner Frau, einer promovierten Juristin und den drei gemeinsamen Kindern lebt.
Europa sei nicht nur die Europäische Union, Europa bestehe nicht nur aus den EU-Staaten, deren Bürger an der Wahl des Europaparlamentes teilnehmen könnten. Neben den Bürgern der EU-Staaten gebe es noch viele weitere Europäer, die mitten in Europa lebten, aber aus historischen oder anderen Gründen nicht zur EU-Familie gehörten. Sie seien trotzdem Europäer und sie machten sich ebenfalls Gedanken um die Zukunft Europas und um ihre eigene Perspektive in Europa. Als Liechtensteiner meine er hier natürlich vor allem, aber nicht nur, das Fürstentum Liechtenstein, sondern auch die Schweiz, Andorra, Monaco, San Marino und weitere Staaten und Territorien, gerade auch östlich der heutigen Europäischen Union.
Das souveräne Fürstentum Liechtenstein sei dieses Jahr 300 Jahre alt geworden. Mit seinen rund 38 000 Einwohnern, darunter rund 20 000 Staatsangehörigen, und einer Fläche von rund 165 Quadratkilometern gehöre das Fürstentum zu den sechs kleinsten Staaten der Welt. Das Land ist seit 1978 Mitglied des Europarates und seit rund 40 Jahren Mitglied der Vereinten Nationen. Die jüngste und wichtigste internationale Einbindung besteht seit 1995, als Liechtenstein zusammen mit Norwegen und Island Teil des Europäischen Wirtschaftsraums EWR geworden ist. Damit sei Liechtenstein wirtschaftlich in die EU integriert, kann aber seine politische Unabhängigkeit stärker als ein EU-Mitglied wahren. Gleichzeitig ist Liechtenstein sehr eng mit der Schweiz verbunden, seit fast 100 Jahren besteht eine Zoll- und Währungsunion mit der Schweiz.
Nach dem Untergang des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation durch Napoleon I. entging Liechtenstein auch im Wiener Kongress einer durchaus angedachten Einverleibung in Tirol oder Bayern und konnte bis heute seine Unabhängigkeit wahren. Liechtenstein verfüge seit 1868 über keine Armee mehr, die Sicherheitspolitik muß also abseits der gängigen Linien gepflegt werden. Das Land verfüge nur über einen kleinen und damit irrelevanten Binnenmarkt. Der wirtschaftliche Zugang zur EU sei deshalb eine existenzielle Notwendigkeit und es führe auch für Liechtenstein kein Weg am Freihandel und an einer Teilnahme an den vier Grundfreiheiten vorbei. Grund sei vor allem die starke Exportindustrie, mit 40 Prozent des BIP deutlich wichtiger als der berühmte Banken- und Finanzsektor. Die Übernahme der gesamten wirtschaftlichen EU-Regulierung aufgrund der EWR-Mitgliedschaft fordere und beanspruche in einem Kleinstaat übermäßig große Ressourcen. So arbeiteten heute in der Verwaltung nur rund 50 Prozent liechtensteinische Staatsbürger. Es könne also durchaus passieren, daß der einen bedienende Beamte breiten österreichischen Dialekt spreche.
Die europäische Teilintegration Liechtensteins mittels des EWR bringe viele Vorteile für die Liechtensteiner. Die heimische Exportindustrie produziere nach EU-Normen und habe freien Zugang zum EU-Handelsraum, die Jugend schätze die Teilnahme an den Universitätsprogrammen wie Erasmus plus, und die Reisefreiheit und freie Wohnsitznahme in Europa, eine Konsequenz der Schengen-Mitgliedschaft Liechtensteins sei auch für die Liechtensteiner eine hochgeschätzte Selbstverständlichkeit.
Dennoch sei auch in Liechtenstein das Thema Personenfreizügigkeit von den vier europäischen Grundfreiheiten politisch der schwierigste Teil. Als Kleinstaat dürfe aber Liechtenstein die Zuwanderung in das Land in Absprache mit der EU kontingentieren und damit weitgehend selbst steuern.
Eine Konsequenz aus der Personenfreizügigkeit sei die Schengen-Mitgliedschaft, neben allen Vorteilen sei Liechtenstein automatisch Teil der europäischen Migrationsthematik. Wer den EU-Raum betritt, habe praktisch unkontrollierten Zugang auch nach Liechtenstein, das als vergleichsweise reiches Land für Flüchtlinge und Asylsuchende sehr attraktiv sei. Das Land verfüge aber nur über beschränkte Ressourcen für Sicherheit und Grenzschutz. Diesen habe das Land vertraglich an die Schweiz delegiert.
Zwiefelhofer betonte aber nicht die gefühlten Nachteile von Schengen. Als reiches Land sei von Liechtenstein seiner Meinung nach ein Plus an Solidarität gefragt. Er sei tief davon überzeugt, daß man als Europäer und Teil des EU-EWR-Systems nicht nur die Vorteile geniessen dürfe, sondern auch an der Milderung der Probleme des heutigen Systems konstruktiv mitwirken müsse. Eine faire Verteilung der Flüchtlinge Europas ist höchste Zeit. Als Innenminister habe er gegen Widerstände in Regierung und Parlament durchgesetzt, daß sich Liechtenstein freiwillig an dem von der EU im Jahre 2015 für die EU-Mitgliedstaaten entwickelten Verteil-Schlüssel beteiligt hat. Wer Teil einer europäischen Idee und einer europäischen Werte- und Wirtschaftsgemeinschaft sein wolle, dürfe nicht nur Rosinen picken.
Das Recht des Stärkeren, das derzeit auch von dem mächtigsten Land der Welt mit dem Slogan «America First» beansprucht werde, stelle für kleine Staaten, oft ohne Armee und ohne politisches Gewicht, eine permanente Bedrohung dar. Seit Jahrhunderten drehe sich Liechtensteins Außenpolitik deshalb darum, wie man die Unabhängigkeit wahren und festigen, und trotz der Kleinheit einen vernünftigen Einfluss auf das Geschehen in Europa und der Welt ausüben könne. Mit dem UNO-Beitritt und dem zum Europäischen Wirtschaftsraum habe Liechtenstein zwei maßgebliche Schritte gesetzt, um seine außenpolitische Ziele zu erreichen.
Denn die Stärke einer Rechtsgemeinschaft messe sich auch daran, wie sie mit ihren schwächsten Mitgliedern umgeht. Kleinstaaten seien deshalb sehr an einer stabilen und erfolgreichen Zukunft von Organisationen wie EU und UNO interessiert.
Aus der Perspektive eines Kleinstaates sei das heutige Europa, das sich nicht von Rechtspopulisten und Nationalisten ins Bockshorn jagen läßt, ein Garant für eine gute Balance von Unabhängigkeit, wirtschaftlichem Fortschritt und angemessener Solidarität. Das sollte nicht aufs Spiel gesetzt werden.
Von unserem Mitglied der Chefredaktion Dr. Wolf-R. Scharff